Eurogames 2011 – Resumé

Eine Zugfahrt, die ist lustig, eine Zugfahrt, die ist schön. Seit gestern regnet es unablässig in Rotterdam und nach drei lauen, teilsonnigen Tagen ist es böse kalt geworden. Also nix wie weg hier. Leichter gesagt als getan, zumindest wenn man mit der Eisenbahn reisen möchte. Aufgrund eines Oberleitungsschadens hatte man uns schon eine Ankunft in Berlin nach Mitternacht in Aussicht gestellt (und damit 9 Stunden Gesamtreisezeit), aber irgendwie hat man es wegen der vielen Berlinheimkehrer von den EuroGames doch noch geregelt bekommen, uns den vorgesehenen Zug erreichen zu lassen. Nun sitzen wir in einem vollen IC unter vielen Berlinern und mehreren Piinkies und rollen durch verregnete Landschaften.
Gerade sind „Frank Schnur und Gesellschaft“ öffentlich ausgerufen worden. Ob sie ihm seinen geklauten Koffer zurückgeben wollen und es als Streich mit der versteckten Kamera entlarven? Das wäre denn doch zu schön. Frau Kallmann erklärt derweil dem jungen Schaffner das gleichgeschlechtiche Tanzen anhand von Videos von Herrn Beier.

Was gibt es nun noch nachzutragen?
Das gestrige Frauenlateinturnier lief auf merkwürdige Weise irgendwie nebenher. Auch weibliche Zuschauer schienen sich mehr für das Standardturnier der Männer zu interessieren. Das mag der besonderen Situation der Klasseneinteilung bei den Männern geschuldet gewesen sein, sicher aber auch der Tatsache, dass es in der Sektion Frauen Latein derzeit nur wenige Spitzenpaare gibt, von denen das eine oder andere in Rotterdam auch noch durch Abwesenheit glänzte. So war denn das Gesamtniveau der diesjährigen Deutschen Meisterschaften höher als das der EuroGames, und hätten die Wertungsrichter hier auch den „harten Cut“ vorgenommen, dann hätten wir wohl eine A-Klasse Frauen Latein mit nur zwei Paaren gesehen.
Denn recht offenen Kampf um Bronze hätten fast Kallmann/Wagner für sich entschieden und hätten damit einen kompletten EM-Medaillensatz aus Standard, Latein und Kombination eingefahren, aber stattdessen bekamen die Gastgeber auf den letzten Drücker doch noch ihren ersten und einzigen Europameisterschaftstreppchenplatz in den Spezialturnieren durch Andeweg/Andeweg, die sich in Latein merklich verbessert haben.

Abends wurden noch „Wettbewerbe“ im Showdance ausgetragen. Die Anführungszeichen stehen dort nicht, weil das keine offizielle Turnierkategorie gewesen ist (im Gegenteil: auch dies waren Europameisterschaften), sondern weil in der Sparte „Showdance Gruppe“ nur eine einzige Formation am Start war. Besser sah das schon bei den Paaren aus, wo überwiegend Männer-Lateinpaare antraten. Mich berührten von den acht Auftritten eigentlich nur jene beiden der niederländischen Paare Diependaal/Gill und Andeweg/Andeweg. Warum es bei ihnen so menschelnd rüberkam, hatte einen etwas traurigen Anlass. Beide Paare erklärten unmittelbar nach ihren Darbietungen ihren Rückzug vom Tanzsport. So sind nun den Holländern insgesamt drei ihrer besten Paare abhanden gekommen, ohne dass sich hier irgendwelche potentiellen Nachfolger gezeigt hätten. Gewonnen haben allerdings weder die heimischen Paare noch die Stauffer-Kruses mit der neuesten zoologischen Erweiterung ihres Repertoires, sondern die Latein-Europameister Martin/Victor mit einer Darbietung mit wenig Seele und wenig Showcharakter, aber von den Wertungrichtern halt dennoch mit Gold bedacht. Die ungewöhnlichste Performance lieferten die Neu-Spanier Castillo/Granizal ab, mit etwas, das man schlicht als „KZ-Kür“ bezeichnen könnte und einen zumindest ambivalenten Eindruck hinterließ. Ich möchte wetten, dass einige diesen Beitrag geschmacklos fanden. Mir war er einfach etwas zu platt.

Tja, und der Ball an sich? Ich war dazu eingeladen als Vorstandsmitglied der ESSDA, war aber nur eine Dreiviertelstunde lang dort, um mir den Showdancewettbewerb der Paare anzusehen, weil ich das als „dienstliche Pflicht“ ansehe. Den Rest habe ich mir geschenkt (man könnte auch sagen „boykottiert“), weil ich es wie viele andere nicht in Ordnung fand, dass auch registrierte Tänzer für eine Ballkarte 25€ zahlen mussten. Wobei für mich der entscheidende Punkt ist, dass im Rahmen des Balls offizielle Tanzwettbewerbe der EuroGames ausgetragen wurden, und die müssen für Turniertänzer angesichts der hohen Meldegebühr einfach gratis sein –oder zumindest stark ermäßigt. Hätte man z.B. die Tickets an Tänzer für 10€ statt für 25€ verkauft, dann wäre es sicher schön voll gewesen auf dem Ball, die Stimmung viel besser und die Gesamteinnahmen auch nicht geringer.

Zu einer ordentlichen Sportveranstaltung gehört natürlich so etwas wie ein Medaillenspiegel. Das ist nicht so ganz einfach, weil die Startlisten nach Staatsangehörigkeiten geführt wurden, man im gleichgeschlechtlichen Tanzen aber bisher eher nach den Ländern sortiert hat, in denen die Tänzer leben und trainieren. Manche ließen das „nachkorrigieren“, und so ging es alles ein wenig durcheinander. Da sollte sich die ESSDA vielleicht doch mal um eine einheitliche Regelung bemühen.
Sortiert nach „country of residence“ ergibt sich bei den 29 vergebenen Medaillen (die eigentlich Aufsteller sind) der ersten offiziellen Europameisterschaften in den klassischen Disziplinen Standard, Latein und Kombination folgendes Bild:
Nach Deutschland ging genau die Hälfte der Plätze 1-3, nämlich 14,5. Wie gewohnt waren die deutschen Paare in Standard führend, bei den Frauen sogar dominant. Sowohl im Hauptgruppenturnier als auch im Seniorenturnier standen nur Frauen aus Deutschland auf dem Siegerpodest. Im Lateinbereich sieht die Situation bei den Frauen (3 Medaillen) weiterhin bedeutend besser aus als bei den Männern (0,5 Medaillen). Frauen und Männer zusammengerechnet liegen Großbritannien (3) und Dänemark (2,5) mit Deutschland etwa gleichauf und sind in der Breite vielleicht sogar besser aufgestellt.
Auch insgesamt waren die Briten (5) vor den Dänen (3) zweitstärkste Nation, wobei anzuführen ist, dass erstere als einziges Land (von jenen, in denen es mehrere gleichgeschlechtliche Tanzpaare gibt) neben den Gastgebern und Österreich mit einer annährend kompletten „Nationalmannschaft“ vor Ort war. Bei allen anderen gab es Lücken. Besonders spärlich vertreten war Ungarn, und das ein Jahr vor den EuroGames in Budapest. Wieder verschwunden von der Equality-Landkarte sind Schweden und Slowenien, etwas präsenter geworden sind Griechenland und Tschechien, weiterhin absolute Fehlanzeige herrscht in Sachen Italien, Polen und Russland. Insgesamt gingen die EM-Medaillen in neun, die EuroGames-Medaillen (Klassen A-D) in vierzehn verschiedene Länder.

Im innerdeutschen Vergleich war Nordrhein-Westfalen das meistdekorierte Bundesland, Köln und Berlin die erfolgreichsten Städte. Je fünf EM-Podestplätze gingen in die beiden deutschen Equalityzentren, wobei Köln bei den Titeln die Nase mir 3:2 vorn hat. Der Norden und der Süden Deutschlands war in Rotterdam leider kaum vertreten, so dass es nicht verwundert, dass nur eine einzige der deutschen EM-Medaillen nicht nach NRW oder Berlin gegangen ist.

Auch pinkballroom war nicht annähernd komplett in Rotterdam am Start. Aber die neun Paare, die dort angetreten sind, haben sich durchweg gut, meist sogar prächtig geschlagen und dabei auch noch eine exzellente Medaillenausbeute erzielt. Kerstin Kallmann und Cornelia Wagner waren mit EM-Gold, EM-Bronze und einem vierten Platz das erfolgreichste pinkballroom-Paar und zweiterfolgreichste Frauenpaar insgesamt. Aus vereinssportlicher Sicht also ein EuroGames-Turnier, das sehr positiv in Erinnerung bleiben wird.
Nimmt man die Vereinsbrille ab, dann bleibt ein Tanzturnier, das nicht perfekt und nicht immer den hiesigen Präferenzen entsprechend organisiert war, aber meiner Ansicht nach eindeutig im grünen Bereich lag. Die Halle war groß, die Fläche turniertauglich, der große Leuchter darüber traumhaft, die Umkleiden großzügig, der ganze Rahmen feierlich, die Informationslage während des Turniers relativ gut und der Ablauf meist flüssig. Chaos herrschte zuweilen in der Startnummernausgabe und am Moderationspult und Tranigkeit beim Protokollteam. Im Ganzen recht ordentlich mit ein wenig Luft nach oben. Ein bisschen mehr gesunder Menschenverstand und ein paar Gedanken mehr an das Wohl der Paare wären noch wünschenswert.

Selbiges kann man von dem Gesamtevent „EuroGames 2011“ nicht behaupten. Da lag doch etliches im Argen. Fast alles wirkte billig, halbherzig oder schlecht vorbereitet, und dass fehlendes Geld und Personal durch ein Mehr an Herzlichkeit ausgeglichen wurde, kann man auch nicht behaupten. Die Volunteers der EuroGames haben sich da teilweise immerhin noch Mühe gegeben, aber was den Rest der Bevölkerung angeht…
Nun ist es natürlich auch schwer, mit den unverkrampft-gelassenen Kopenhagenern (2009) oder den mitschunkelnden Kölnern (2010) mitzuhalten, aber in Rotterdam wähnte ich mich manchmal so, als wäre ich schon bei den EuroGames 2012 in Budapest, wo man sich besser von vornherein auf wenig Gegenliebe einstellen sollte.
Zum Schluss der Tanzwettbewerbe bin ich noch mit einem dummdreisten Ordner (vom Ahoy, nicht von den EuroGames) aneinandergeraten. Da hätte nur noch ganz wenig gefehlt, bis die Fäuste geflogen wären, ganz ehrlich. Also, in diese Stadt muss ich wirklich nicht nochmal hin.

Und dennoch: Wenn ich für mich Gesamtbilanz ziehe, dann habe ich neben zwei Silbermedaillen und einer Vize-EM-Trophäe auch die Tage der EuroGames 2011 auf der Habenseite. Nicht wegen der Stadt, nicht wegen der EuroGames als solcher, sondern allein wegen der Tatsache, hier drei Tage lang einen Großteil der europäischen Frauen- und Männerpaare in bester Form und schönem Rahmen beim gemeinsamen Saisonhöhepunkt 2010/11 erlebt zu haben. Sei es nun als Teilnehmer meiner eigenen oder Zuschauer der anderen Turniere. Ich möchte schon fast behaupten, dass allein das A-Finale der Hauptgruppe Männer Latein allen Kosten- und Zeitaufwand der Reise gerechtfertigt hat. 🙂
Darüber hinaus habe ich es einfach sehr genossen, endlich einmal wieder auf ganz viele andere Tänzer aus verschiedenen Ländern zu stoßen, bei denen ich weiß, dass sie genau wie ich viele Monate bei mitunter freudlosen und mühseligen Trainingseinheiten in schnöden, stickigen  Räumen zugebracht haben und sich wahrscheinlich zuweilen für genauso bekloppt halten wie ich mich selbst. Die geplagte Sportlerseele braucht das zuweilen. Es entschädigt für Vergangenes und motiviert für Zukünftiges. Aber erleben lässt es sich wirklich nur im großen Rahmen. Weder die größeren Eintagesturniere (London, Berlin, Kopenhagen) noch die zweitägige Deutsche Meisterschaft sind in der Lage, so ein Flair zu verbreiten wie EuroGames, Outgames oder Gay Games, geschweige denn diese zu ersetzen oder entbehrlich zu machen.

Also, Mädels: Wenn das Geld knapp ist, spart in Gottes Namen bei den Privatstunden, beim Turnieroutfit oder bei den Reisekosten zu kleineren Turnieren, aber streicht nicht die jährlichen internationalen Meisterschaften aus eurem Kalender!  Selbst EuroGames in Minsk würden wunderbar sein, so lange dort eine schöne Tanzfläche ausgelegt würde und alle dorthin fahren und mitmachen. Alle einschließlich euch!

In diesem Sinne auf ein erfolgreiches Tanzjahr 2010/2011

Euer

Thorsten von Steglitz

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